via Carmen Schmidt

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»Viele Frauen haben Angst, dass ihr Kind im Bauch gestorben ist.« Mit einer Ärztin auf Lesbos

Lesbos im November. Ein frostiger Wind weht über den Strand der kleinen griechischen Insel und ich betrete einen Bus, der mit einem großen Plakat der Adventisten überzogen ist. Da ich gegenüber christlichen Vereinen Vorbehalte habe, begleitet mich ein mulmiges Gefühl – das sich in den nächsten Minuten in Luft auflösen wird.

Im Bus lerne ich die Schweizerin Jacqueline Alder kennen, die seit 10 Tagen in diesem Bus arbeitet. Jacqueline ist Ärztin und der Bus kein Bus, sondern eine Klinik. Ich halte mich an den Stangen fest, denn mir bleibt der Mund offen, während ich das Innere des Busses bewundere. Unfassbar. Und: Hier wird nicht missioniert, sondern nur medizinisch versorgt.

Alles ist voll mit fein säuberlich einsortierten Medikamenten und es gibt hinter einem Vorhang einen abgetrennten Raum für Frauen.

»Vor ein paar Wochen schickte mir ein Freund eine E-Mail und stellte mir das Bus-Projekt vor. Mich hat sehr bewegt, was hier auf Lesbos abgeht. Weil ich gerade frei hatte, habe ich gesagt: Okay, ich komme.«

Jacqueline setzte sich in einen Flieger und arbeitet nun seit 10 Tagen mit ihrem Kollegen Michael-John Von Hörsten zusammen, der vor 6 Wochen seinen Job kündigte und seither rund um die Uhr Geflüchtete medizinisch versorgt.

»An einem Tag kommen gar keine Boote, aus welchen Gründen auch immer und manchmal kommen 10 Boote gleichzeitig und da weiß man gar nicht, wo man anfangen soll«, berichtet mir die große Schweizerin.

»Was wir am meisten sehen, sind unterkühlte Leute, die sehr lange schlecht oder gar nichts gegessen haben, die traumatisiert sind. Manchmal gibt es sehr heftige emotionale Reaktionen bis zur Bewusstlosigkeit. Sie werden hier dann aufgewärmt, bekommen zu essen und zu trinken.«

Dies seien aber noch die harmlosen Fälle. Jacqueline hat in den paar Tagen auf Lesbos weitaus schlimmeres gesehen.

»Oft kommen auch Leute mit Schuss oder Messer-Verletzungen. Viele sind Monate unterwegs, sehr weit gereist und sich wochenlang in Wäldern versteckt.«

Ich schaue zu Strand und erinnere mich an die Gesichter, die ich in den letzten Tagen gesehen habe. Jetzt kann ich ein bisschen besser verstehen, wie es den Geflüchteten bisher ergangen ist.

»Wir hatten eine Frau, die von ISIS die Kehle durchgeschnitten eine Brust abgetrennt bekam. Ihr Mann wurde vor ihren Augen umgebracht. Die Kinder waren auch dabei, als das passiert ist.«

Ich spüre, wie mir einwenig schwindelig wird. Gut, dass wir uns gerade hingesetzt haben.

»Gestern war ein junger Mann da, der nur geweint hat, weil seine ganze Familie (Frau und Kinder) vor seinen Augen ausgerottet wurde. Das geht mir schon sehr nah, diese Menschen sind einfach alleine hier.«

Ich atme tief durch. Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf und ich ringe nach den passenden Worten. Da fällt mir ein, dass der Bus ja eine Klinik ist und ich frage Jacqueline nach den Behandlungen, die sie hier mit ihren Kollegen durchführt.

»Die Standardbehandlungen sind Wundversorgung und Schwangerschaftskontrollen. Viele Frauen haben Angst, dass ihr Kind im Bauch gestorben ist – was durch den ganzen Stress durchaus passieren kann. Des weiteren machen wir Flüssigkeitstherapien, da viele Geflüchtete unterkühlt, dehydriert oder schwer krank sind.«

Manche Kinder kämen mit Lungenentzündung, Asthmapatienten verlieren häufig ihre Sprays, so Jacqueline. Sie erlebe jedoch auch sehr schöne Begegnungen.

»Wir hatten kürzliche eine Groß-Familie. Jesiden, die im Irak verfolgt werden. Die Eltern und ihre 13 Kinder kamen auf drei unterschiedlichen Booten an und von den Helfer*innen wusste niemand, wo sie dazugehörten. Alle haben sich dann wieder gefunden.«

»Mit Medikamenten sind wir gut versorgt. Was uns noch fehlt, sind gute Monitore, wenn Patienten in einen Herzstillstand geraten… Wir brauchen vor allem Geld für Spezialgeräte und die Wartung des Busses, denn die Idee dahinter ist, dass wir auch woanders Geflüchtete versorgen können. Beispielsweise in Mazedonien oder weiter nördlich auf der Balkanroute.«

Am darauffolgenden Tag begleite ich Jacqueline bei der Behandlung eines Jungen, der schreiend und weinend von seiner Mutter in den Bus getragen wird. Der kleine Muhammed weint so viel, dass mir die Tränen ins Gesicht stehen, denn ich weiß, dass dies auch mein Kind sein könnte.

Jaqueline kommuniziert mit einem Übersetzer, der arabisch spricht und ebenfalls ein Geflüchteter ist. Sie erklärt ihm, welche Medikamente der Junge nehmen soll, und wie viel. Der Übersetzer gibt diese Informationen an die Mutter weiter, die, wie sich herausstellt, schwanger ist.

Mit einem Ultraschallgerät tastet Jaqueline den Bauch der Mutter ab und nachdem ich von beiden das OK bekomme, darf ich auch den Raum betreten und ein paar Fotos machen. Die Mutter ist sichtlich erleichtert, dass ihr Kind im Bauch gesund ist.

Und zwischenzeitlich hat sich auch der kleine Junge beruhigt, dem die Behandlung des Kinderarztes sehr schnell geholfen hat. Ich spüre, welch eine Oase dieser Bus mitsamt den Ärzt*innen ist. Jacqueline strahlt eine Ruhe und Routine aus, die hier an diesem Ort ganz besonders wichtig ist.



Liebe Jacqueline. Ich bin immer noch sprachlos von Deinem Einsatz für die Geflüchteten und dem, was Du auf Lesbos tagtäglich erlebst. Menschen wie Du sind ein Licht im Dunkeln der Geflüchteten und es gibt viel zu wenige Menschen, wie Dich. Ich bin so dankbar dafür, dass Du tust, was Du tust. Friede mit Dir.

P.S. Wer meine fotojournalistische Arbeit unterstützen möchte, kann dies gerne via Paypal tun. Dankeschön!

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